Meilenstein: Loslassen

Gestern schrieb ich von kleinen Schritten. Heute konnten wir einem großen Entwichklungsschritt mit erleben. 

Das Septembermädchen ist offen, geht gern auf andere Menschen zu und “fremdelt ja gar nicht”, wie ich oft erstaunt höre. Aber sie möchte in der Regel genau wissen wo ihre Bezugspersonen sind und entfernt sich nur soweit wie es für sie gut ist. Das heißt, sie weiß, dass ich gleich in den Garten komme, wenn die Kinder schon mal voraus gehen. Sie weiß, dass ich in der Kinderhausküche koche und sie darf bei den anderen Kindern spielen. Sie weiß, ich bin erreichbar und in kurzer Zeit bei ihr, wenn sie mich braucht. Heute ging sie einen Schritt weiter. 

Heute rief am Mittag die beste Tagesmutter der Welt an und fragte, ob der kleine Mann mit ihrer Tochter spielen möchte. Natürlich freute sich der kleine Mann, seit dem Umzug ins Nachbardorf vermissen die beiden Kinder sich sehr. Das Septembermädchen war nun auch aufgeregt und wollte mit. Beim Abholen durfte sie das dann auch entscheiden, es war noch Platz im Auto. Es musste aber alles ein bisschen schnell gehen. Sie wollte mit. Als ich sie anzog wurde sie dann doch wankelmütig und suchte Schutz in meinem Arm. “Ich will hier bleiben.” Dann bleibst du hier. Du darfst entscheiden. Ich zeige ihr, dass es für mich okay ist, wenn sie geht, aber es genauso okay ist, wenn sie bleibt. Und dann will sie doch mit, schnappt sich ihre Jacke, lässt sich schnell die Schuhe anziehen und stiefelt mit los.  

 Schwupps haben wir unerwartet einen Kinderfreien Nachmittag. Und das Septembermädchen? Hat alles gut gemacht. Nun kuscheln wir ganz eng im Bett. So eng wie schon lange nicht mehr. Nun braucht sie Nähe und kann dann stolz auf ihren großen Schritt sein. 

Es ist nicht Klammern oder nicht loslassen können 

Vor einer Weile bekam ich eine liebe E-Mail von einer sehr guten und langjährigen Freundin. Ich freue mich immer sehr, wenn ich etwas persönliches höre, denn leider ist der Kontakt zu einigen Freunden recht spärlich geworden. Sicher aus unterschiedlichen Gründen und nicht mit Absicht, sondern aus einem reichen Alltag heraus und einer großen räumlichen Entfernung. Aber darum soll es hier gar nicht gehen, sondern um etwas, was meine Freundin in ihrer E-Mail schrieb und mich lange beschäftigte. Es ging um das Loslassen, sein Kind abgeben, weggeben und bei dem Kind sein. Nur ein Nebensatz, keine Wertung oder irgendwas in die Richtung, sondern eine Feststellung bzw. Beobachtung meiner Freundin meines Verhaltens. Ihr schien es, dass ich beim kleinen Mann weniger loslassen konnte, als beim Septembermädchen. 

Dazu möchte ich etwas ausholen. Denn die Frage ist, was bedeutet loslassen. Heißt es wirklich, dass man sein Kind abgeben kann, dass man das Kind recht früh in andere Arme gibt, dass man sich räumlich von dem Kind trennen kann. Wenn ja, dann heißt es im Umkehrschluss, wer das nicht kann klammert an seinem Kind, kann es nicht loslassen. Und damit macht die gesellschaftliche Norm einem Glauben, dass man seinem Kind schadet. Doch ist das wirklich so? Worum geht es eigentlich? Ums loslassen? 

Als der kleine Mann geboren wurde, handelte ich aus dem Bauch heraus. Ich hatte keine Ahnung. Ich habe ihn getragen, gestillt und er hat bei uns im Bett geschlafen. So war es praktisch und gemütlich. Meine Hebamme erzählte uns in den ersten Tagen von windelfrei, da ich ihr erklärte: “er ist so unruhig, ich glaub der muss aufs Klo”. Wir haben uns lange im Wochenbett verkrümmelt, nach vier Tagen ist er mal kurz in ein anderes Zimmer mit gekommen. Langsam ging es für ihn in eine aufregende neue Welt. Als nach ungefähr sechs Wochen meine Eltern zu Besuch kamen, war meine Mutter die erste “fremde” Person, die ihn auf den Arm nahm. Bis dahin war er in den Armen des Herzensmannes und mir unterwegs. Ab und an merkte ich vor allem von älteren Freunden, die keine Kinder hatten, dass ich da ja schon etwas komisch wäre. Ich würde Klammern. Doch dieses Gefühl hatte ich nicht. Ich wusste, da ist ein kleiner Mensch zu uns gekommen und wir dürfen ihn begleiten, ihm einen sanften Start ins Leben geben. Ich versuchte auf meinen Bauch zu hören und ihm seine Bedürfnisse zu stillen. Mehr braucht es nicht. Und so, machten wir uns als Familie auf unseren Weg, zu einem bedürfnissorientiertem Umgang. Dazu gehört eine gute Bindung und Beziehung. Die Bindung wird in der Regel in den ersten innigen Monaten geschaffen. An der Beziehung muss man arbeiten. Jeden Tag. Das ist nicht leicht, denn es heißt vor allem sich selber in Frage zustellen und zu reflektieren. Wir sehen unsere Kinder nicht als unfertige Menschen, die wir formen und gestalten können. Sie sind, wie sie sind, genau richtig. Wir geben ihnen Raum zum Entfalten und Entwickeln. Ein bisschen wie bei einem Schmetterling. Er ist in seinem Kokon fertig, schlüpft und entfaltet langsam seine Flügel. Bei uns Menschen dauert das Entfalten nur viel länger.

Zurück zum Loslassen. Irgendwann beginnt das Kind sich zu bewegen und die Welt erkunden. Hier zeigt sich, sehr gut,ob man loslassen kann. Denn das Kind beginnt nun mehr und mehr sich von der Mutter/dem Vater weg zu bewegen. Erst robbend, dann krabbelnd und irgendwann laufend. Es wird auf Hindernisse stoßen und mögliche Gefahrenquellen. Da ist die Leiter zum Hochbett des Bruders, die Kellertreppe, der Ofen und vieles mehr. Das Kind, wenn es eine gute Bindung hat, vertraut sich selbst und testet aus. Wie weit kann ich gehen? Wie weit traue ich mich? Hier muss nun die Mutter/der Vater loslassen und vertrauen. Wenn dieses Vertrauen da ist, geht das Kind sehr bald eigene Wege und weiß “Da ist immer jemand da”. 

Es ist also kein Klammern, wenn ich meine anderthalb Jahre alte Tochter bei der Tagesmutter wieder abmelde, weil ich merke, dass wir noch nicht so weit sind. Es ist kein Klammern, wenn ich meinen dreijährigen Sohn in den Schlaf begleite und ihm die Hand halte, weil ich weiß, das er dieses Bedürfnis hat. 

Und ich weiß, dass ich loslassen kann. Sonst wäre meine Tochter nicht sämtliche Leitern und Treppen hoch geklettert und in einem Affenzahn rückwärts runter gerutscht, bevor sie laufen konnte. Sonst würde ich nicht so gelassen und entspannt neben dem Spielplatz sitzen, wenn der kleine Mann auf der Spitze des Kletterturms sitzt. Ich würde meine Kinder nicht bei einer Freundin einfach in den Garten lassen, ohne das ich diesen auch nur annähernd überblicken kann. Ich lasse sie los und lasse sie frei, ihre Wege zu gehen. Dabei habe ich Vertrauen in meine Kinder und in ihre Fähigkeiten. Ich weiß, dass sie sehr wohl einschätzen können, was sie schaffen und was nicht. Und sie wissen, ich bin im Zweifelsfall da. Es ist also Bindung und Beziehung und eine extra Portion Vertrauen. 

Jeden Abend

Es gibt so Momente, da bin ich einfach nur glücklich, dankbar und zutiefst berührt. Einen gibt es jeden Abend. Nur wenige Sekunden. Ein tiefes Ausatmen. Die Augen sind zu. Man weiß, jetzt, jetzt ist das Kind eingeschlafen.
Voll Vertrauen. Endlich konnte es den aufregenden Tag loslassen. Viel Erlebtes muss verarbeitet werden.
Ein entspannter Atemzug. So tief. Mitten hinein in mein Herz. Voll mit Liebe, Glück und Dankbarkeit.